Herr Dr. Schäfer, bis zu Ihrem Ruhestand 2018 waren Sie Honorarprofessor für Kommunalwirtschaft an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung (HNE) Eberswalde. Außerdem waren Sie Herausgeber und Chefredakteur der „Unternehmerin Kommune: Fachzeitschrift für kommunalwirtschaftliches Handeln“. Aktuell betreiben Sie einen gleichnamigen Blog. Was macht dieses Thema für Sie so interessant?
Seit Mitte der 1990er-Jahre beschäftige ich mich intensiv mit dem Thema. Dabei habe ich festgestellt, dass wir viel zu wenig über Kommunalwirtschaft und Daseinsvorsorge reden. Und wenn, dann auf einer völlig ungenügenden Basis von konkreten, belastbaren Erkenntnissen.
Ein Beispiel: Während meines Lehrauftrags an der Hochschule ist mir eine grundlegende Frage aufgefallen, die bis dato niemand gestellt hat: Welchen Anteil hat eigentlich die Kommunalwirtschaft an der Gesamtwirtschaft bei Faktoren wie Bruttoinlandsprodukt, Produktivität, Zahl der Beschäftigten, Lohnsummen etc.? Hierzu gab es keine Antworten. Vor diesem Hintergrund wurde in der neoliberalen Phase der 90er viel darüber diskutiert, dass die Kommunalwirtschaft die Privatwirtschaft erdrücke. Ich habe dann die erste Studie initiiert und begleitet, die sich mit diesem Thema wissenschaftlich beschäftigt hat. Die Erkenntnis am Ende war, dass, bezogen auf die oben genannten Parameter, die Kommunalwirtschaft einen Anteil von 2,2 bis 2,3 Prozent an der Gesamtwirtschaft trägt, die Privatwirtschaft 88 Prozent. Von einer Gefährdung kann also nicht die Rede sein.
Qualitativ sieht es natürlich ganz anders aus: Kommunalwirtschaft umfasst alle Dinge, die unsere Existenz betreffen. Auch heute brenne ich für diese Themen, denn es gibt noch viele offene Fragen und Forschungsbedarf.
Kommunalwirtschaft in der Breite abbilden
Warum haben Sie 1997 die Zeitschrift UNTERNEHMERIN KOMMUNE gegründet?
Mit der Zeitschrift wollte ich ein Diskussionsforum etablieren, dass die Kommunalwirtschaft in ihrer Breite erfasst. Da sind die klassischen Themen wie Energie und Abfallwirtschaft, aber auch ÖPNV, Wohnen, die Rückgewinnungswirtschaft, der gesamte Bereich der gesundheitlichen Betreuung wie kommunale Krankenhäuser etc. Diese Bandbreite der kommunalwirtschaftlichen Betätigung im Bereich der Daseinsvorsorge wurde bis dahin nirgendwo abgebildet – weder publizistisch noch wissenschaftlich. Ich wollte die einzelnen Bereiche in einem Medium zusammenführen, Schnittstellen aufzeigen und Diskussionen in Gang bringen. Das ist auch gelungen: In den gut 20 Jahren, in denen die Zeitschrift erschienen ist, habe ich weit über 200 Gesprächsrunden zum Thema organisiert.
Was hat Kommunen vor 30 Jahren beschäftigt und was beschäftigt sie heute?
Das aus meiner Sicht zentrale Problem der Kommunen – speziell in Deutschland – hat sich von den Rahmenbedingungen her nicht geändert. Im Grundgesetz ist das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung definiert. Das bedeutet am Ende, dass die Kommunen alles, was sie vor Ort am besten lösen können, auch selber machen sollen. Dieses Prinzip liest sich wunderbar, ist im Grunde genommen aber nie komplett und vollständig durchgesetzt worden. Dazu habe ich in den 90ern den zugegeben eher polemischen Ausdruck der „Totengräber der kommunalen Selbstverwaltung“ geprägt.
Da ist die strukturelle Unterfinanzierung der Kommunen in Deutschland. Die laut Grundgesetz auf Kommunen übertragenen Aufgaben – speziell die Pflichtaufgaben – müssen natürlich auch durchfinanziert sein. Sonst funktioniert es nicht und die Kommunen sind letztlich immer die Bittsteller. In einem dichter werdenden Geflecht von rechtlichen Regelungen ist es schon fast zynisch, wenn Bundes- und Landespolitiker sagen: Ihr wisst doch unten vor Ort am besten, wie es geht. Und einen Tag später konterkarieren sie dieses Prinzip mit neuen einschränkenden Regeln. Unterfinanzierung, Bevormundung und Überregulierung setzen das Subsidiaritätsprinzip weitgehend außer Kraft.
Da die Aufgaben und Anforderungen in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen sind, hat sich die Situation der Kommunen tendenziell eher verschlechtert. Als Beispiel nenne ich hier das Thema Flüchtlinge. Hier werden von Bund und Ländern viele Vorgaben gemacht, die Kommunen gar nicht umsetzen können. Die Finanzen reichen einfach nicht. Dabei geht es nicht nur um die Unterbringung Geflüchteter, sondern auch darum, sie vernünftig zu integrieren und vielleicht sogar dazu zu befähigen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und einen Beitrag zur Ökonomie zu leisten. An der Stelle kommen wir dann zum nächsten großen Thema: Klimawandel und Kreislaufwirtschaft. Auch hier wachsen die Anforderungen ohne entsprechende Gegenfinanzierung.
Klimawandel erfordert erweiterte Sicht auf Daseinsvorsorge
Angesichts des Klimawandels steht die klassische Daseinsvorsorge, bei der es um die Bereitstellung und Sicherung existenzieller Leistungen wie Wasser- und Energieversorgung, Verkehr und Sicherheit geht, vor einer großen Herausforderung. In einer erweiterten Begriffsdefinition sagen Sie, Daseinsvorsorge muss vor dem Hintergrund von Klimawandel sowie Natur- und Ressourcenverschleiß gedacht werden. Wie können Kommunen das leisten?
Hier muss man klar trennen zwischen der existenziellen Daseinsvorsorge – also dem Kern meiner Definition – und deren Erweiterung, welche eine globale Dimension hat. Letzteres können Kommunen weder regeln noch normieren. Das ist erstmal Gegenstand völkerrechtlicher Verständigung, wo gesagt werden müsste: Wir akzeptieren nirgendwo auf diesem Planeten noch ökonomische Betätigung, die nachgewiesenermaßen Mensch und Natur schadet. Um im deutschen Maßstab zu bleiben: Hier müsste der Deutsche Bundestag regeln, dass jede Art von Wirtschaften, die gegen dieses Prinzip verstößt, sanktioniert wird. Das ist gegenwärtig nicht der Fall. Wenn es aber eine entsprechenden Regelung geben würde, dann wären die Kommunen sehr wohl in der Lage, diese globale Dimension in ihrem Bereich umzusetzen.
Für mich ist Kommunalwirtschaft per se schon der Bereich innerhalb unseres Wirtschaftssystems, der am nachhaltigsten ist. Ein Stadtwerkeunternehmen kann – ganz platt gesagt – keine Sauerei machen, weil es eben lokal ist. Es kann seinen Standort auch nicht einfach verlagern, weil ihm bestimmte Regeln in Deutschland zu streng sind.
Wie viel Handlungsspielraum hat eine Kommune für nachhaltiges Wirtschaften?
Für eine wirklich umfassende Kreislaufwirtschaft sind die Möglichkeiten eher klein. Bezogen auf ihre eigenen Unternehmen, wie Stadtwerk oder Wohnungsgesellschaft, kann eine Kommune aber wiederum die Einhaltung der entsprechenden Standards sicherstellen: In diesem Sinne können Wohnungsbestände entwickelt, Dachflächen für Sonnenkollektoren genutzt, ordentliche Abdichtung und Dämmung vorgenommen werden etc. Doch auch hier gibt es viele Vorgaben von oben, wie hohe und kostenintensive Anforderungen an die Energieeffizienz von Gebäuden bei gleichzeitiger Vorhaltung eines bestimmten Anteils des Wohnungsbestands für Sozialschwache. Das wiederum geht mit geringen Mieteinnahmen einher. Für die Kommunen ist das die Quadratur des Kreises, wenn ihnen nicht die Finanzmittel zur Umsetzung der in Gesetzen normierten Aufgaben zur Verfügung gestellt werden.
Kommunen brauchen Partnerschaften
Müssen sich Kommunen hier andere Partner suchen, zum Beispiel aus der Privatwirtschaft, um den vielen Anforderungen gerecht zu werden?
Das strukturelle Problem der Unterfinanzierung kann durch die Mitwirkung der Privatwirtschaft nicht gelöst, sondern höchstens durch Effizienz, Know-how und Synergien abgemildert werden. Sichergestellt werden muss die aufgabenadäquate Bereitstellung der Finanzmittel. Da sind die Länder und der Bund am Zuge. Die Möglichkeiten der Kommunen sind dabei vergleichsweise gering. Sie haben natürlich Interessenverbände wie den Deutschen Städtetag, den Deutschen Landkreistag und den Deutschen Städte- und Gemeindebund. Die werden in Gesetzgebungsverfahren auch angehört, können am Ende wegen der geltenden Regeln nur eine passive Rolle spielen. Man muss es klar und deutlich sagen: Kommunen haben im Deutschen Bundestag keine Lobby. Daran können auch einige wenige engagierte Abgeordnete, zumeist mit einem kommunalen „Vorlegen“, nichts ändern.
Trotz dieser widrigen Rahmenbedingungen sind und bleiben die Kommunen für die Daseinsvorsorge verantwortlich. Da sie Teil der Länder sind, steht das in den dort erlassenen Gesetzen. Folgerichtig müssen die Länder auch dafür sorgen, dass die Ressourcen zur Erfüllung dieser Aufgabe verfügbar sind.
Die Kommunen wiederum sind im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung verpflichtet, die Daseinsvorsorge so effizient wie möglich zu organisieren. Dazu muss man sich konsequent vom Kirchturmdenken verabschieden. Kooperationen sind dabei ein Muss. Partner können die Nachbarkommune oder ein Zweckverband sein. Aber genauso auch die Privatwirtschaft. Die verfügt für viele Spezialthemen über Kompetenzen, die kein kommunales Unternehmen jemals vorhalten kann. Partnerschaften mit privaten Unternehmen sollten möglichst in gemeinsamen Unternehmen mit kommunaler Mehrheit realisiert werden. Denn in der Kommunen liegt die Verantwortung für die Daseinsvorsorge. Deshalb muss sie auch im Zweifelsfall die Chance haben, das letzte Wort zu sprechen.
Wo gibt es hier in Deutschland solche Partnerschaften?
In Deutschland gibt es zwei Modelle, die diesen Prämissen nach meiner Einschätzung sehr weitgehend entsprechen: Das sind die Beteiligungsnetzwerke der kommunalen Thüga und der privaten REMONDIS. Die Daseinsvorsorge-Beteiligungen beider „Familien“ zeichnen sich durch lange Lebensdauer, hohe Ertragskraft und Stabilität aus. Für das REMONDIS-Modell habe ich den Begriff der Öffentlich-Privaten Daseinsvorsorge geprägt.
ÖPP als leidiger Kompromiss?
In welchen Bereichen innerhalb der Daseinsvorsorge ist eine Öffentlich-Private-Partnerschaft sinnvoll und in welchen nicht?
Ich sehe keinen Bereich in der kommunalen Daseinsvorsorge, in dem ein solches Kooperationsmodell auszuschließen wäre. Ganz im Gegenteil: Das Kooperationserfordernis wird immer größer und deshalb auch die Verantwortung der Kommunen, sich Unterstützung zu suchen. Ein ganz aktuelles Beispiel ist P-Recycling. 2017 wurde die Klärschlammverordnung novelliert, und zwar ausgesprochen revolutionär. Ab 2029 muss aus kommunalen Klärschlämmen, in denen sehr viel Phosphor vorhanden ist, dieser zurückgewonnen werden. Eine sehr weitsichtige Entscheidung, denn Phosphor ist eines der wichtigsten Elemente für die Welternährung.
Phosphor aus kommunalem Klärschlamm herauszuholen, ist von der Verfahrensweise her sehr kompliziert – aber es ist technisch und heute sogar wirtschaftlich möglich. Das Modell hierfür steht in Hamburg. Es ist ein Gemeinschaftsunternehmen von Hamburg Wasser, einem zu 100 Prozent kommunalen Unternehmen, und REMONDIS. Hamburg Wasser trägt 60 Prozent an der Hamburger Phosphorrückgewinnungsgesellschaft und REMONDIS 40 Prozent. Die Anlage hat in diesem Jahr den Industriebetrieb erreicht. Die Verantwortlichen sind sich sicher, dass dieser 2023 zumindest ein Nullsummenspiel wird. Das ist ein Beispiel, wo ich sagen würde: Es wäre abwegig, wenn ein Wasser- und Abwasserzweckverband auf die Idee käme, sich eines solchen Themas allein anzunehmen.
Eine Verbindung zwischen Kommune und Privatwirtschaft ist somit nicht nur ein leidiger Kompromiss zwischen Privatisierung und Kommunalisierung?
Darum geht es am Ende gar nicht. Wir brauchen Strukturen, innerhalb derer Daseinsvorsorge optimal erbracht werden kann – bezogen auf Qualität und Effizienz der Leistung. Mit welchem Partner das am besten funktioniert, entscheidet die Kommune. Der Private ist der Böse, die Kommune die Gute – diese Ideologie muss aus den Köpfen. Hunderte Unternehmen der Öffentlich-Privaten Daseinsvorsorge zeugen von einem konstruktiven Miteinander.
Vielen Dank für das Gespräch!