Lieber Herr Becker-Rethmann, der ÖPNV steckt in der Krise. Aus privatwirtschaftlicher Sicht: Wo sehen Sie die Schwächen des öffentlichen Personennahverkehrs?
Grundsätzlich steht der öffentliche Nahverkehr vor gewaltigen Herausforderungen. Das liegt vor allem am Mobilitätsverhalten der Fahrgäste, das sich insbesondere durch die Coronakrise deutlich verändert hat. Private Verkehrsunternehmen müssten sich mit flexiblen Plänen genau auf dieses veränderte Verhalten einlassen, was aber schlichtweg nicht möglich ist. Denn die gültigen Verträge, die wir haben, sind sehr unflexibel. Da sind die Linien und Taktungen für zehn bis zwölf Jahre vorgegeben.
Hinzu kommt, dass Aufgabenträger häufig nicht den Anreiz haben, etwas proaktiv zu verändern. Die haben ihre Verträge im Rahmen von öffentlichen europaweiten Ausschreibungen vergeben und befinden sich schon in einem sehr engen Korsett. Zudem wird meist auch gar nicht überprüft, ob die Verwendung der für den öffentlichen Verkehr (ÖV) ausgegebenen Finanzmittel überhaupt wirksam ist. So kommt es nicht selten vor, dass mancherorts leere Busse durch die Gegend fahren, weil das Angebot nicht oder nicht mehr den Bedürfnissen der Kunden entspricht. Kommunale Verkehrsbetriebe haben durch die enge Verknüpfung von Auftraggeber und Gesellschafter viel mehr Möglichkeiten, auch kurzfristig vertragliche und finanzielle Anpassungen vorzunehmen.
Ein weiterer Punkt sind ordnungspolitische Themen. So gibt es beispielsweise eine europaweite Vorgabe, was die Anschaffung von klimaneutralen Bussen und Straßenfahrzeugen angeht – die Clean-Vehicles-Directive. Die findet aber momentan keinen Widerhall in öffentlichen Ausschreibungen. Das führt dazu, dass für den Linienbusverkehr immer noch Dieselbusse ausgeschrieben werden, weil Kommunen die Mehrkosten, die sich durch das Thema Elektrifizierung ergeben, scheuen. Da gibt es noch Kompetenz-Unklarheit zwischen Bund, Land und Kommune.
An welchen Stellschrauben müssen Kommunen drehen, um ihren ÖPNV attraktiver für potentielle Nutzer und Nutzerinnen zu machen? Ist das von der Politik geplante 9-Euro-Ticket ein Schritt in die richtige Richtung?
Da bin ich ein bisschen zwiegespalten. Grundsätzlich ist der Impuls, den öffentlichen Nahverkehr zum Thema zu machen und ihn zu fördern, gut. Denn der wurde während der Coronazeit stigmatisiert als Quelle von Ansteckung etc., was zum Rückgang der Fahrgäste geführt hat. Aber machen wir uns nichts vor: Das Neun-Euro-Ticket ist völlig unwirtschaftlich – erst recht vor dem Hintergrund des viel diskutierten 365-Euro-Tickets. Ein Versuch ist es allemal wert. Außerdem hat die Bundesregierung Ende April entschieden, die mit dem Ticket verbundenen Mehrkosten zu tragen. Das ist fair. Die Frage ist tatsächlich: Ist es auch nachhaltig? Und wie kann die womöglich kurzfristig geschaffene Attraktivität und Erkenntnisse daraus für die Zukunft genutzt werden?
Gerade was den öffentlichen Nahverkehr in Deutschland angeht, sehe ich wirklich Reformbedarf. Es muss bei den Aufgabenträgern eine viel größere Bereitschaft geben, Verkehrskonzepte und Verkehrsverträge an den tatsächlichen Bedarf anzupassen. Wir brauchen auch eine Straffung des Planungsrechts und vor allem eine Ausrichtung der Raumplanung an Mobilitätszielen. Es können nicht endlos Wohn- und Gewerbegebiete auf der grünen Wiese entstehen ohne eine effiziente Anbindung an vorhandene Bahn- oder Buslinien. Außerdem haben wir einen Flickenteppich an Verkehrsverbünden mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Dieses Tarifdickicht auch über die Verbundgrenzen hinaus zu durchblicken, ist für einen Fahrgast nicht einfach.
Das 365-Euro-Ticket ist in Wien gut etabliert. Lohnt sich für Deutschland in Sachen öffentlicher Verkehrsplanung auch der Blick ins Ausland?
Als Transdev sind wir in 17 Ländern tätig. Überwiegend natürlich in Europa, aber auch in den USA, in Kanada, Südamerika, Australien und Neuseeland. Wir haben also einen ganz guten Überblick und sehen, dass es in anderen Ländern auch seitens der politischen Entscheider andere Voraussetzungen gibt, die eine zukunftsgerechte Gestaltung im öffentlichen Nahverkehr möglich machen.
Nehmen Sie beispielsweise die Niederlande: Da hat die Verwaltung der Stadt Eindhoven entschieden, den gesamten öffentlichen Nahverkehr zu elektrifizieren. Darauf wurde die Verkehrsinfrastruktur angepasst – die Stadt hat massiv in die Straßenführung eingegriffen –, was wiederum den Individualverkehr verändert hat. Wir hatten das Glück, die Stadt mit Elektrobussen zu bestücken und diese dann auch entsprechend zu betreiben. Auch in Frankreich, wo der Sitz unseres Unternehmens ist, führen wir im Auftrag von Städten ganze Schnellbuslinien ein. Da sind, wie in den Niederlanden, die Infrastrukturmaßnahmen entsprechend verändert worden und wir fahren mit elektrifizierten oder wasserstoffbetriebenen Bussen im U-Bahn-Takt die Hauptrouten ab. Damit schaffen wir ein ganz anderes Mobilitätsangebot und erfüllen auch die Klimavorgaben.
Ich kann Ihnen da noch weitere Länder nennen. Die Stadtverwaltung von Bogota in Kolumbien ist beispielsweise ganz innovativ. Da haben wir vor kurzem alleine 400 Elektrobusse in Betrieb genommen und betreiben eine städtische Seilbahn. Sind Sie auch davon überzeugt, dass das in einem integrierten Konzept möglich ist? In Deutschland sind wir da bereits an konkreten Projekten dran. Im Vergleich zur schienengebundenen Lösung kann eine Seilbahn nämlich viel schneller und einfacher umgesetzt werden. Außerdem werden auf diese Weise Flächen überbrückt, an denen sonst jahrelang gebaut wird. Und: Sie können eine Seilbahn mit klimaneutralem Strom betreiben. Das Wichtige ist dabei, dass diese nicht wie heutzutage üblich für die Bundesgartenschau genutzt, sondern wirklich ins Netz integriert wird und die Fahrgäste auch ihre Fahrräder mitnehmen können.
Wenn Sie Kommunen zu diesem Thema beraten: Werden Ihre Ideen und Ihre internationale Expertise da angenommen oder stoßen Sie auf taube Ohren?
In wenigen Einzelfällen haben wir die Chance, Gespräche mit den Verkehrs- oder Umweltministern in den Bundesländern zu führen. Ansonsten sprechen wir mit kommunalen Auftraggebern über moderne Mobilitätskonzepte. Veränderungen sind jedoch nur dann möglich, wenn sie in die politische Landschaft passen und rechtlich gewollt und möglich sind. Zur Zeit sind die Verkehrsverwaltungen durch den rechtlichen Rahmen so eingeschränkt, dass unternehmerische Flexibilität nahezu unmöglich ist.
Wie können Lösungen hier aussehen?
In den Metropolen agieren überwiegend kommunale Verkehrsbetriebe, die das Thema öffentlicher Nahverkehr vor allem in den Innenstädten schon sehr gut lösen. Das läuft, egal, wo sie hingehen – nach Berlin, Köln, München, Hamburg. Da haben sie eine gute Kombination aus unterschiedlichen Verkehrsmitteln. Diese muss man sinnvoll und effizient miteinander vernetzen. Das geht von der S-Bahn über einen dichten Takt im Busverkehr bis hin zu Car-Sharing, Leihfahrrädern oder den bereits erwähnten Seilbahnsystemen.
In ländlichen Regionen lohnt sich oftmals der Einsatz großer Busse nicht. Es geht stattdessen darum, ein ÖV-Angebot ganz konkret an die Bedürfnisse der Nutzer anzupassen, wie etwa unser Smartes Dorfshuttle im Süderbrarup-Kreis in Schleswig-Holstein. Für solche individuellen Verkehre mit elektrisch betriebenen Kleinbussen gibt es verschiedene Modelle: Der Kunde bestellt per App ein Fahrzeug zu einer bestimmten Zeit, um an einen bestimmten Ort oder zu einem zentralen ÖV-Knoten gebracht zu werden. Das kann über fest definierte Haltestellen passieren oder auch von Haustür zu Haustür.
Ich glaube aber auch, das in Mittelzentren der Bedarf an zeitgemäßen Mobilitätslösungen sehr groß ist. Hier können Kommunen von den Vorteilen und Kompetenzen privater Partner profitieren. Denn auch der öffentliche Verkehr muss effizient betrieben werden und – um insbesondere die Klimaziele zu erreichen – in den Kommunen eindeutig Vorrang erhalten.
Haben Sie ein Beispiel für so eine öffentlich-private Partnerschaft, die auch die kommunale Nachhaltigkeitspolitik unterstützt?
Als Transdev sind wir beispielsweise in Frankfurt a. M. in einem ganz grandiosen Konzept unterwegs. Wir fahren da mit Elektrobussen – das war die Vorgabe des Aufgabenträgers –, die mit Strom aus dem lokalen Müllheizkraftwerk betrieben werden. Man muss sich das mal vorstellen: Der Abfall, der in Frankfurt anfällt, wird energetisch sinnvoll verwertet, und wir beziehen den dabei entstehenden Strom, um unsere E-Busse zu laden. Für eine Großstadt ein recht nachhaltiges Konzept, das uns nicht von der Stadt Frankfurt vorgegeben wurde, sondern wir haben es entwickelt und als Transdev gemeinsam mit dem städtischen Entsorgungsunternehmen, eine Beteiligung unseres Mitgesellschafters, umgesetzt.
Auch wenn es schöne Konzepte gibt, bei denen Kommune und Privatbetreiber zu beiderseitigem Nutzen gut zusammenarbeiten, sind öffentlich-private Partnerschaften immer noch ein heikles Thema. Was wünschen Sie sich hier für die Zukunft?
Wir wünschen uns von Seiten der Aufgabenträger eine größere Flexibilität bei der Kooperation mit privaten Anbietern und der Umsetzung innovativer und neuer Ideen. Denn Verkehr und Mobilität geht uns alle an und es geht nur gemeinsam. Wir sollten außerdem nicht den Anspruch haben – wie häufig in Deutschland –, erst mal die beste Lösung für die gesamte Bundesrepublik zu finden. Stattdessen macht es manchmal Sinn, in Einzelfällen einen Versuch zu starten und zu sagen: Komm, lass uns mal gucken, wie es funktioniert. Ich glaube, die aktuelle Situation erfordert, dass wir den öffentlichen Verkehr weiter- und neu denken.
Vielen Dank!